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Die zehnte Krise, oder: Paranoia und Fortschritt…

Wer ist eigentlich paranoider, der Paranoiker oder eine Gesellschaft, die ständig dem technischen Fortschritt hinterher hechelt und all diejenigen belächelt, die nicht jeden Schwachsinn mitmachen wollen, egal wie penetrant er sich auch in das Mäntelchen Fortschritt und Zukunft hüllen mag?

‚Asteroid‘ (oder war es ‚Android‘? Egal…) und ‚Apps‘ sind die häufigsten Worte, die dem Paranoiker derzeit beim kantinösen Mittagsfraß (obwohl, die Suppen sind in letzter Zeit wirklich deliziös!) um die Ohren fliegen. Im All umherschwirrende Gesteinsbrocken und was auch immer? Nein, mitnichten, Unwissender! Es geht um intelligente Telephone, neudeutsch: ’smart phones‘, denen man allerhand mehr oder noch mehr unnötige ‚applications‘, also Anwendungen, besagte ominöse ‚Apps‘ aufspielen kann, beispielsweise ein Programm, das, nach Gewinnung eines Photos, den oder die Abgelichtete in einen Häßlichkeitsindex eingruppiert (hm, komisch, seine Präferenzen, insbesondere hinsichtlich des weiblichen Geschlechts, konnte der Paranoiker bislang problemlos selbst definieren). Alternativ kann man sich Sternenkarten herunterladen, Navigieren und somit leichter die nächste Kneipe finden, im Internet surfen, Zeitung lesen (bevor sie als Printmedium erscheinen – der Paranoiker freut sich kurz, das wäre doch eine Anwendung für ihn, hätte er dann doch einen Tag mehr, ‚die Zeit‘ zu lesen, sieht aber bald schon seinen Irrtum ein, schließlich fehlte der Tag ja bereits in der folgenden Woche wieder), Interviews anschauen und  vieles mehr – was, hat der Paranoiker schon wieder vergessen. Es sei zugegeben – seine schroffe Ablehnung über einer leckeren Curry-Karotten-Suppe fiel vielleicht etwas harsch aus (ja, Tom, hiermit leistet der Paranoiker Abbitte) und mag in einer generellen Fortschrittsungläubigkeit begründet liegen, aber als Paranoiker fürchtet der Paranoiker nun einmal die zunehmende Verblödung der Mitmenschen, die schon vielfältig beobachtbar ist. Abgesehen davon, daß der Paranoiker sich durchaus bessere Investitionsziele für 300 Euronen aufwärts vorstellen kann als ein ’smart phone‘ (das entspricht immerhin dem Gegenwert von mindestens 30 Taschenbüchern und somit mehr als dem Halbjahresbedarf… – darauf zu verzichten, wäre ja wohl alles andere als ’smart‘ – alternativ könnte der Paranoiker auch mindestens zehn Tango-Workshops belegen – noch mal mindestens zehn gute Gründe, auf ein solches Spielzeug zu verzichten…); wer ist denn heute noch in der Lage, eine Straßenkarte zu interpretieren, geschweige denn, das kleine Einmaleins-Orakel zu befragen – wer muß sich denn heute noch irgend etwas merken, wenn alle Informationen jederzeit und überall wikipediadisiert sind – die illustre Essensrunde spinnt den Faden bis hin zu ‚Ärzten‘, die nur noch Photos von Patienten machen müssen, um dann von einem ‚Diagnose-App‘ eine 70 % dies, 25 % das Dignose ausgespuckt zu bekommen – täuscht sich der Paranoiker, oder ist er wirklich in der Minderheit, wenn er derartigen Szenarien nichts, aber auch gar nichts abgewinnen kann?

Nein, eigentlich keine Krise wert, oder?

Belächelt ihn nur alle, schaut mitleidig drein, der Paranoiker lebt gut auch ohne androide ‚Phones‘ und hat kein Problem damit, nicht immer und überall jede Information verfügbar zu haben – seit Wochen ’schleppt‘ er schon ein dünnes Bändchen mit Reiseberichten von Truman Capote in seiner Tasche mit sich herum und hat bislang nicht mal die Hälfte davon zum außerhäusigen Zeitvertreib lesenderweise geschafft – wo nehmen Andere eigentlich die ganze Zeit für den digitalen Overkill her? Zeit, die Augen zu schließen, tief durchzuatmen und den Fortschritt an sich vorbeiziehen zu lassen…